Sieben Schritte      
                   

Hat man in der Vergangenheit den Konstrukteur mit der Bewältigung der Toleranzthematik weitgehend alleine gelassen, so erlebt man heute manchmal den gegenteiligen und fast ebenso extremen Ansatz: So werden von den (vielen) Beteiligten Toleranzbetrachtungen angefordert  und durchgeführt - eine klare Problembeschreibung und / oder ein mögliches Konzept fehlen jedoch. Nicht nur, dass die Ergebnisse und Vereinbarungen dann untauglich werden, ihre Aussagen können sogar schädlich für das Unternehmen sein. Die Folge: Das Vertrauen in ein nicht funktionierendes Produkt oder aber die Eskalation unwichtiger Dinge könnten vorangetrieben werden. Andererseits muss es aber möglich sein, aufgrund grober Vorgaben zügig und unmittelbar Prognosen und Empfehlungen auszusprechen. Diese dürfen dann aber nicht in einer Schublade verschwinden, sondern müssen sukzessive aktualisiert und kommuniziert werden.

Methodisches Vorgehen ist gefragt, das nicht nur strukturiertes Abarbeiten einzelner Probleme beinhaltet, sondern Teilbetrachtungen stets in den Gesamtkontext stellt. Die von uns in „sieben Schritte“ untergliederte Methodik der Toleranzsynthese umfasst: die Definition von Vorgaben und Zielen, die Festlegung von Funktionsbereichen und Teilekonzepten sowie die Bewertung der Prozesseinflüsse und ihre Auswirkungen auf das Produkt und schließlich den Status der Lösungsfindung. Im Zentrum dieses Vorgehens steht die Analyse der vorgeschlagenen Lösungen. Dabei werden die Zielvorgaben mit ihrer Umsetzbarkeit im Serienprozess korreliert und in Form von Toleranzketten und Messplänen dokumentiert.
Methodisches Vorgehen in sieben Schritten
                   
Zielsetzung und Strukturierung      
       
Eine Aufgabe ist halb gelöst, wenn sie klar formuliert ist. Die Vorgaben für die Erarbeitung eines Toleranzkonzeptes ergeben sich aus den Produktanforderungen und der Planungen der Prozesse. Automobile werden grundsätzlich in die Bereiche Karosserie, Ausstattung, Fahrwerk, Antrieb und Elektrik untergliedert. Innerhalb dieser weiter verfeinerten Modulstruktur und deren Verantwortlichkeiten sollten die Toleranzkonzepte erarbeitet werden. Die Erarbeitung eines Toleranzkonzeptes gliedert sich generell in einen produktseitigen und einen prozessseitigen Aspekt. Basierend darauf bietet es sich an, die Themen weiter zu strukturieren nach Ort (Front, Heck, Innen, Unten), Art (Haupt- und Nebenfunktion, Styling), Zeit (Füge- und Montagefolge), Bauteilen (Karosserie, Anbauteile) sowie nach weiteren Kriterien (Parameter, Wirkrichtung, Priorität, Zuständigkeit, Termin, Status).
Strukturierung der Aufgabenstellung
       
Funktionsbereiche mit Qualitätsmerkmalen      
       

Es empfiehlt es sich, die Produktanforderungen detailliert aufzulisten und nach Funktionsbereichen, also örtlichen und funktionalen Gesichtspunkten, zu untergliedern und durchzunummerieren. Die einzelnen Bereiche sind voneinander abzugrenzen und in geeigneten Schnittlagen darzustellen. Der Schnitt bei Y=0 bietet sich beispielsweise für die Visualisierung sämtlicher Funktionen der Heckklappe an: Öffnen und Schließen, Dichtigkeit und Kollisionsfreiheit sowie Montierbarkeit und Fugenbild. Gemeinsam mit Design, Entwicklung und Qualitätsingenieuren werden jeder Funktion geeignete Qualitätsmerkmale zugeordnet, mit Nominalwerten und Toleranzen versehen und in Anforderungskatalogen wie Dichtigkeits- und Fugenplänen sowie Lastenheften dokumentiert.

Die Ermittlung der Toleranzverträglichkeit einzelner Funktionen wird im Idealfall mit Hilfe von sog. Grenzlagenmustern vorgenommen. Beurteilt man beispielsweise die Fuge der Heckklappe zum Stoßfänger, so ist die Dimensionierung und Tolerierung derart vorzunehmen, dass einerseits die Kollisionsfreiheit gegeben ist und andererseits ein gefälliges Erscheinungsbild entsteht. Jeder Funktion sind geeignete Qualitätsmerkmale (Fugengröße) zuzuordnen. Diese müssen in spezifische Parameter (Z in mm) mit Nominalwerten (4,0) und Toleranzen (± 1,0) „übersetzt“ werden. Die Visualisierung dieser einzelnen charakteristischen Bereiche ist Teil eines sogenannten Schnittlagenmodells. Dieses erstreckt sich über das gesamte Fahrzeug und dient später der Festlegung von signifikanten Messpunkten. Für die Spalt- und Versatzmessung bieten sich hier zum Beispiel zwei Schnittlagen (0-0-2) an, die jeweils absolut (Fugengröße) und relativ zueinander (Parallelität) ausgewertet werden.

Übersicht der Funktionsbereiche
Qualitätsmerkmale mit Schnittlagen
       
Zusammenbaufolgen mit Ausrichtkonzepten      
       

Ebenso wie die Entwickler und Designer haben auch die Technologen, Prozessplaner und Lieferanten meist klare Vorstellungen von ihren Abläufen, die zur Herstellung eines hochwertigen und funktionsfähigen Fahrzeugs führen sollen. Ob Prozesse toleranzgerecht ausgelegt sind ergibt sich primär aus den geplanten Zusammenbaufolgen. So sollten beispielsweise alle relevanten Prozessabfolgen der Heckklappe und ihres Umfeldes in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgelistet werden: Herstellung der einzelnen Baugruppen, Zusammenbaukonzepte, Finish und weitere physikalische Einflüsse, die auf die o.g. Funktionen einwirken. Daraus ergeben sich wiederum die Anzahl, die Größe und die Wirksamkeit der toleranzrelevanten Einflüsse.

Diese Einflüsse sind entlang der gesamten Prozesskette unter geometrischen aber auch physikalischen Gesichtspunkten zu beschreiben. Das Stichwort heißt: Referenzierung der Baugruppen nach den Regeln der „statischen Bestimmtheit“. Die Einbaulage einer Heckklappe ist zum Beispiel eindeutig definiert, wenn ihr alle geometrischen Freiheitsgrade entzogen wurden. Gemäß der 3-2-1-Regel könnte dies bedeuten, dass die Klappe dreimal in x über die Außenhaut, zweimal in z zur Bördelkante und einmal in y zur Symmetrie im Karosserieausschnitt positioniert - also (3-1-2) ausgerichtet wird. Es empfiehlt sich, das Einbaukonzept jeder relevanten Baugruppe chronologisch bis hin zum fertigen Gesamtfahrzeug detailliert zu skizzieren. Ausgehend davon werden von den Prozessverantwortlichen Prognosen für die Wiederholgenauigkeit ihrer Prozesse eingefordert.

Bauteilkatalog mit Zusammenbaufolgen
Ausrichtungen und Referenzierungen
       
Verknüpfung per Korrelationsmatrix      
       
Auf der Grundlage von definierten Funktionsbereichen mit Qualitätsmerkmalen und Zusammenbaufolgen mit Ausrichtkonzepten werden in diesem Schritt die angestrebten Ziele auf ihre Umsetzbarkeit im Serienprozess hin analysiert. Dabei werden die Ursachen (toleranzrelevante Einflüsse) und ihre Wirkung (toleranzverträgliche Eignung) miteinander korreliert. Die üblichste Form, Beziehungen zwischen Einzeltoleranzen und einem erwünschten Schließmaß aufzustellen, ist die lineare Toleranzkettenrechnung. Hierbei hilft die von uns entwickelte Toleranzmatrix. In Fällen mehrdimensionaler, kinematischer oder nachgiebiger Baugruppen ist es erforderlich, die Wirkzusammenhänge mit geeigneten Toleranzmodellen virtuell zu simulieren. Das Ergebnis dieser Analysetätigkeit sind die Inhalte von Toleranzketten und Messplänen.
Toleranzmatrix
       
Toleranzketten mit Produktstatus      
       

Die Dokumentation von Toleranzketten ist auf Basis des obigen Vorgehens reine Formsache - jedoch eine nicht zu unterschätzende. Ihr Zweck besteht darin, den angestrebten Qualitätszielen alle funktionsschwächenden Toleranzeinflüsse anschaulich gegenüberzustellen, zu quantifizieren und zu bewerten. Die nebenstehende Toleranzkettenrechung ist die einfachste Form, einzelne Funktionsmaße auf das Schließmaß (Fuge Heckklappe zu Stoßfänger) in Z zu projizieren. Dabei werden die Beitragsleister tabellarisch aufgelistet, normiert, quantifiziert und mittels einer „best case / worst case“ Aufsummierung berechnet. Das erwartete Ergebnis (erwartete Grenzlagen) wird dann der Vorgabe (zulässige Grenzlagen) gegenübergestellt und bewertet.

Im Falle der Untererfüllung (aber auch Übererfüllung) der Ziele gilt es, Potentiale zu erkennen und daraus Maßnahmen abzuleiten, um zu stimmigen Toleranzkonzepten zu gelangen. Es ist sinnvoll, wie im Beispiel Stoßfänger – Montage – Karosseriestruktur – Montage – Heckklappe, alle relevanten Einflüsse klar und übersichtlich zu gliedern, um daraus die Verbesserungspotentiale abzuleiten zu können. Für die Potentiale gilt grundsätzlich folgende Hierarchie: kurze Toleranzketten, robuste Einzelprozesse, notfalls enge Einzeltoleranzen (vgl. Pareto). Der Status der Produktanforderungen wird in den Toleranzketten über die Priorität der Teilfunktionen und deren Erfüllungsgrad aufgezeigt.

Produktstatus und Maßnahmen
       
Messpläne mit Prozessstatus      
       

Aus den einzelnen Qualitätsmerkmalen werden die Toleranzanforderungen auf alle betroffenen Baugruppen herunterdividiert. Die Tolerierung der Baugruppen wird meist in den 2D-Zeichnungen vorgenommen oder aber unmittelbar im 3D-Datenmodell verankert. In zunehmendem Umfang erfolgt die Tolerierung in den simultan erstellten Messplänen. Basis eines jeden Messplans ist das Ausrichtsystem. Die Ausrichtung sollte prinzipiell der Einbausituation der Baugruppe in ihrem Umfeld, in der Regel der Karosserie, entsprechen. Spiegelbildlich dazu ergibt sich karosserieseitig ein lokales Referenzsystem, innerhalb dessen ebenso Toleranzbeziehungen ermittelt und nachgewiesen werden müssen. Inhalt der Messpläne sind neben dem Ausrichtsystem und den Befestigungspunkten alle funktionsrelevanten Maße – wie sie sich aus den o.g. Funktionsbeziehungen und dem daraus einwickelten Schnittlagenmodell ergeben.

Die einzelnen Toleranzwerte werden gemeinsam mit den Prozesspartnern erarbeitet und den Toleranzanalysen zugeführt. Dabei handelt es sich zunächst um Prognosen, die im Laufe der weiteren Entwicklungszyklen zu bestätigen sind. Führen die einzelnen Toleranzwerte zu insgesamt stimmigen Toleranzkonzepten, so werden diese mit den Prozessverantwortlichen und den Lieferanten verabschiedet und freigegeben. Die Einhaltung dieser Toleranzen fordert mit näher rückendem Serienanlauf zunehmend nachgewiesene Prozessfähigkeitsindizes. Der Status der Prozesse wird in den Messpläne in Abhängigkeit der Qualität der Daten (konzipiert, abgestimmt, vereinbart, plausibel und prozessfähig) aufgezeigt.

Messpläne mit Funktionsmaßen
Messberichte und Prozessstatus
       
Bewertung und Freigabe      
       
Das Ende dieses Vorgehens ist durch die Bewertung der Zielerreichung gekennzeichnet. Als Kenngröße für das Toleranzkonzept eines Produktes werden häufig der Erfüllungsgrad der priorisierten Qualitätsanforderungen sowie die - zur jeweiligen Entwicklungsphase - erforderlichen und nachgewiesenen Prozessbeherrschungs- und Prozessfähigkeitsindizes herangezogen. Sind diese hinreichend hoch, so erfolgt die Freigabe, andernfalls wird diese Schleife mit veränderten Konzepten oder einzelnen Parametern wiederholt. Der Fortschritt des Toleranzkonzeptes wird über den Grad der Zielerreichung (grün = voll erfüllt, gelb = bedingt erfüllt, rot = nicht erfüllt) berichtet.
Zusammenfassende Bewertung und Freigabe